Der Six Bells Cocktail

Der etwas ungewöhnliche Name dieses leckeren Cocktails stammt aus der Seefahrt, genauer gesagt: Aus der British Royal Navy.

Dort teilte man nämlich jeden Tag in sieben Wachen ein, beginnend um Mitternacht, und zwar fünf Wachen zu je vier Stunden und zwei Wachen zu je zwei Stunden. Da Armbanduhren noch unbekannt waren, wurde alle halbe Stunde eine Glocke geschlagen, damit die Wachhabenden wußten, wie lange ihre Schicht noch dauerte. Der Ablauf der ersten halben Stunde wurde mit einem Glockenschlag verkündet, das Ende der ersten Stunde mit zwei Glockenschlägen usw. usf., bis schließlich acht Glockenschläge das Ende der Wachschicht anzeigten.

Six Bells“ bedeutet also, daß die Wache bereits drei Stunden andauerte, nach unserer gewohnten Zeitrechnung also morgens um 03:00 Uhr, dann wieder morgens um 06:00 Uhr und so weiter alle vier Stunden.

Commander Hubert Searle Cardale (geb. 1875, seit 1888 Commander in der Royal Navy) war im Rahmen der British Naval Mission in Griechenland im Ersten Weltkrieg als Konteradmiral zur griechischen Marine abgestellt. Nach seiner Pensionierung hat er folgendes Rezept für den von ihm so genannten Six Bells Cocktail festgehalten, das im 1937 erschienenen Café Royal Cocktail Book wiedergegeben wird:

Six Bells Cocktail 

1 Weinglas Myers’s Rum

1 Likörglas Curacao

Saft einer frischen Limette

12 Tropfen Angostura

1 Dessertlöffel Zuckersirup

Mit Crushed Ice shaken

Wir haben bei diesem Rezept nun das Problem, daß keine modernen Maßeinheiten angegeben sind

Damit ist der Six Bells nichts anderes als eine Variation des Pegu Club Cocktails, kein Wunder, schließlich befinden wir uns ja im Jahr 1937! Wenn wir nun an ein modernes Weinglas denken, dann würde dieser Cocktail 20 cl Myers’s Rum enthalten, wahrlich eine stattliche Menge, die beinahe einer Drittel Flasche entspricht – und definitiv zuviel für eine Person, besonders wenn man bedenkt, daß der Myers’s Rum doch recht intensiv in Aroma und Geschmack ist! Erhältlich ist dieser übrigens zum Beispiel hier:
Myers’s Jamaica Rum

Auf der anderen Seite wird nicht angegeben, daß diese Menge für mehrere Personen gedacht war. Was nun?

Die Lösung liegt in der Menge, die mit „Weinglas“ gemeint ist. Hier darf man sich keinesfalls ein modernes Rotweinglas vorstellen, sondern eher die klassischen Südweingläser. Kurzum: Die angegebene Menge entspricht zwei Ounces oder 6 cl – und damit läßt sich immer noch ein recht kräftiger Cocktail herstellen!

Die nächste Mengenangabe, das Likörglas, entspricht wiederum einem Drittel der oben genannten Menge, also in heutiger Menge 2 cl.

Weiter im Text: Wieviel ist der „Saft einer frische Limette“? – Der Durchschnittswert liegt bei knapp 3 cl, und der fertige Six Bells Cocktail zeigt, daß dies genau die richtige Menge ist!

12 Tropfen Angostura entsprechen etwas mehr als einem dash (1 Tropfen = 0,05 cl, 1 dash = 0,5 cl), gerade die richtige Menge für einen Cocktail, ohne diesen zu herb zu machen.

1 Dessertlöffel ist eine heute ganz ungebräuchliche Mengenangabe, sie liegt bei knapp 12 ml, also etwa in der Mitte zwischen einem Esslöffel (1 EL = 15 ml) und einem Teelöffel (1 TL = 5 ml).

Damit liest sich das Rezept mit modernen Mengenangaben folgendermaßen:

Six Bells Cocktail

6 cl Myers’s Rum

2 cl Curacao

3 cl frisch gepresster Limettensaft

1 dash Angostura

1 cl Zuckersirup

Mit Crushed Ice shaken

Damit ist der Six Bells Cocktail eigentlich nichts anderes als eine Variation des Pegu Club Cocktails, der nach dem gleichnamigen Herrenclub in Birma benannt war, der vor etwa 100 Jahren als beste Adresse für britische Lebensart in diesem Lande galt.

Der hauptsächliche Unterschied besteht in der Verwendung von Myers’s Rum an der Stelle von Gin, wodurch der Six Bells ein wesentlich opulenteres Gepräge erhält und natürlich viel besser zur Royal Navy passt, die ja traditionell sehr mit dem Rum verbunden war (Gin war ja eher das Getränk der British East India Company).

Weiterhin wird für den Six Bells Curacao verwendet, und zwar der weiße, ungefärbte, während der Pegu Club mit Orange Curacao zubereitet wird. Der weiße Curacao ist ein hervorragender Orangenlikör, aber leider schwer erhältlich, weshalb der Six Bells oft mit Triple Sec an der Stelle von Curacao gemixt wird (was freilich ein etwas anderes Geschmacksbild. Der Triple Sec sollte also hier tatsächlich nur eine Notlösung sein!

 Ungewöhnlich ist, daß der Cocktail auf Crushed Ice zu shaken ist – normalerweise kommen grundsätzlich größere Eiswürfel in den Shaker, um den Drink nicht allzu sehr zu verwässern. Daß hier nun tatsächlich Crushed Ice verwendet wird, soll also genau dies erreichen: Eine Verdünnung des Drinks durch das schnell schmelzende Eis, was sich übrigens wegen der Verwendung des doch recht kräftig schmeckenden Myers’s Rum auch empfiehlt!

Als Glas für den Six Bells findet traditionell das Martiniglas Verwendung, serviert wird er ohne Eis und garniert mit einer Orangenzeste.

Ob Commander Cardale nun der Meinung war, daß der Six Bells Cocktail tatsächlich alle vier Stunden genossen werden sollte, sei dahingestellt, auf jeden Fall erfand er einen sehr leckeren Drink, den nicht nur Seeleute zu schätzen wissen!

In diesem Sinne: Ein frohes Zwischenprost auf Commander Cardale!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert