Unter einem „Sidecar“ versteht man den Beiwagen eines Motorrads, der gemeinhin gerade genug Platz für einen Beifahrer bietet, und gemeinhin wird angenommen, daß sich der Name des Sidecar-Cocktails von diesem Beiwagen ableitet.
Es existieren allerdings mehrere Versionen über den Ursprung des Sidecar:
(1) Das Hotel Ritz in Paris, dessen Hemingway Bar auch heute noch zu den berühmtesten Bars der Welt zählt, nimmt die Urheberschaft für den Sidecar in Anspruch: Ein Captain der US-Armee soll in den 1920er stets von seiner Ordonnanz in einem Beiwagen zu dieser Bar gebracht worden sein, wo er einen Cocktail mit einem bestimmten Mischungsverhältnis orderte. Der Bartender gab dann diesem Drink den naheliegenden Namen „Sidecar„. Diese Version nennt David A. Embury in seinem berühmten Mixbuch „The Fine Art of Mixing Drinks„, das 1948 erschien und in dem er den Sidecar zu den sechs wichtigsten Cocktails zählt, die jeder Bartender, der diesen Namen verdienen will, beherrschen muß.
(2) Der Barkeeper von Harry’s New York Bar in Paris, Harry MacElhone, in dessen 1922 erschienenen Barbuch „Harry’s ABC of Mixing Cocktails“ das erste schriftlich niedergelegte Rezept für diesen Cocktail zu finden ist, nennt allerdings den Bartender des damals bekannten Buck’s Club in London, einen gewissen Pat MacGarry, als Erfinder des Sidecar. Später bestand MacElhone allerdings darauf, daß er selbst den Drink in seiner oben genannten Bar in Paris erfunden habe, wobei er dieselbe Geschichte anbringt, die auch das Hotel Ritz erzählt.
(3) Robert Vermeire beschreibt in seinem ebenfalls 1922 erschienenen Barbuch „Cocktails and How to Mix Them“ den Sidecar als einen „in Frankreich sehr beliebten Cocktail„, aber auch bei ihm taucht der Name Pat MacGarry auf.
(4) Die aktuellste Version stammt von dem auch als „King Cocktail“ bekannten Dale deGroff, der in seinem Buch „The Essential Cocktail“ 2008 alle oben genannten Versionen als schöne, aber nicht nachvollziehbare Geschichten bezeichnet. Dale deGroff schreibt vielmehr: „Der Name Sidecar bedeutet in der Welt des Cocktails etwas ganz anderes: Wenn ein Bartender sich in der Menge der Zutaten für einen Cocktail vertan hat, dann bleibt nach dem Ausgießen ein Rest im Shaker zurück. Dieser Rest kommt dann in ein seitlich bereitstehendes Shotglas – dieses Shotglas nennt man Sidecar.“
DeGroff kann auf jeden Fall für sich in Anspruch nehmen, daß die ersten drei Versionen schon deshalb auf wackeligen Füßen stehen, weil der Sidecar erstmals bereits im Jahr 1900 genannt wird, lange vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs. Das Rezept erscheint in diesem Jahr in New Orleans in „A Book of famous old New Orleans recipes used in the South for over 200 years„, das neben Koch- eben auch Cocktailrezepte bringt und dessen Verfasser leider unbekannt ist. Hier steht das älteste Rezept für den Sidecar:
Sidecar-Grundrezept (1900):
2 EL Cointreau
3 EL Cognac
Saft einer halben Zitrone
auf Crushed Ice shaken und kalt servieren
Dieses Grundrezept zeigt Eingeweihten, welcher Cocktail wirklich Pate bei der Erfindung des Sidecar stand: Es war nämlich der
Brandy Crusta:
6 cl Brandy
1 cl Grand Marnier
1 cl Maraschino
0,5 cl Zuckersirup
1,5 cl Zitronensaft
2 dash Orange Bitters
Orange, Zuckerrand
Ein Sidecar ist also nichts anderes als ein modifizierter Brandy Crusta, bei dem die verschiedenen süßenden Zutaten (Grand Marnier und Zuckersirup) durch Cointreau ersetzt wurden, unter Auslassung des Orange Bitters! In diesem alten Rezept von Joseph Santini aus New Orleans findet sich noch der Brandy als Grundzutat, später wurde dieser schrittweise durch den Cognac ersetzt, wodurch vermieden wurde, daß der Cocktail durch die sehr unterschiedlichen Charaktere verschiedener Brandys beeinflusst wurde (Brandy kann süß, trocken, fruchtig oder tanninlastig sein, je nach Marke). Auch der Zuckerrand am Glas taucht hier auf: Im Sidecar war dieser zunächst nicht zu finden, er taucht allerdings, ebenso wie der Brandy, 1936 in dem Mixbuch von Harman Burney Burke „Complete Cocktail & Drinking Recipes“ wieder auf:
Sidecar nach Burke (1936):
2 Teile Brandy
1 Teil Zitronensaft
1 Teil Cointreau
Rühren und in ein Glas mit Zuckerrand strainen
Dieses Rezept von Burke unterscheidet sich von anderen Sidecar-Rezepten vor allem dadurch, daß die Zutaten gerührt und nicht geschüttelt werden.
Die Ansicht von David A. Embury der Meinung, daß der Sidecar eigentlich nichts anderes sei als eine Variante des Daiquiri sei, in welchem der Cognac den Platz des Rums übernimmt, während mit Zucker anstelle von Cointreau gesüßt wird, ist also nicht schlüssig. Embury gibt allerdings 1948 folgendes Rezept für den Sidecar an:
Sidecar nach Embury (1948):
2 oz. (6 cl) Brandy
0,25 oz. (0,8 cl) Cointreau
0,5 oz. (1,5 cl) Zitronensaft
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte hat sich daraus das heute übliche Grundrezept für den Sidecar entwickelt:
Moderner Sidecar:
6 cl Cognac
3 cl Cointreau
3 cl Zitronensaft
Wie man sieht, ging es, nachdem die drei Grundzutaten einmal etabliert waren, in neuerer Zeit eigentlich nur noch um das richtige Mischungsverhältnis. – Und wie bei vielen anderen Cocktails auch, ist das nun wieder eine Frage des Geschmacks und der persönlichen Vorlieben…
Dabei haben sich zwei Lager formiert, nämlich einmal die so genannte „French school„, der zum Beispiel MacElhone angehört und die jeweils gleiche Teile Cognac, Cointreau und Zitronensaft favorisiert, und dann die „English school„, wie sie etwa im Savoy Cocktail Book von 1930 vertreten wird und die nach zwei Teilen Cognac und jeweils einem Teil Cointreau und Zitronensaft plädiert.
Es gibt allerdings auch „Ausreißer“, wie zum Beispiel David A. Embury, der alternativ auch folgendes Mischungsverhältnis angibt:
Sidecar-Variation nach Embury (1948):
8 Teile Cognac
2 Teile Cointreau
1 Teil Zitronensaft
Das ergibt nun freilich einen wesentlich trockeneren und auch stärkeren Cocktail, und viele sind der Meinung, daß ein Sidecar gar nicht so trocken sein darf!
Stellt sich nun noch die Frage nach dem Zuckerrand: Soll das Glas für den Sidecar mit einem Zuckerrand versehen, also gerimmt werden?
Wie oben beschrieben, erhielt der Vorgänger des Sidecar, der Brandy Crusta, einen Zuckerrand, der auch wesentlich zur geschmacklichen Eleganz dieses aufwendig zuzubereitenden Cocktails beiträgt. Und natürlich bietet ein Zuckerrand auch was für’s Auge…
Es bleibt wohl jedem selbst überlassen, ob er einen solchen Zuckerrand appliziert, grundsätzlich ist es jedoch wohl keine schlechte Idee, wenn man den Anteil des (süßen) Cointreau etwas zurückfährt, wenn man einen Zuckerrand haben will. Als Garnitur wird meist eine Zitruszeste verwendet, aber auch ein Stück einer Orangenscheibe ist sehr passend, wenn man daran denkt, daß der Cointreau ja ein Orangenlikör ist.
Weitere Varianten ersetzen übrigens den Cognac durch Armagnac, wodurch der Sidecar noch etwas mehr „Biss“ bekommt und etwas rustikaler wirkt, und natürlich kann der Cointreau durch einen Triple Sec Curacao ersetzt werden, wenn man nicht gleich zum Grand Marnier greifen will, womit man dann dem Brandy Crusta wieder näher kommt.
In diesem Sinne: Ein frohes Zwischenprost!